von HC Roth.

Zeltfest. Der Gegenentwurf zu … Na, zu was eigentlich? Zu allem, was irgendwie subkulturell geprägt zu sein scheint. Zum einen. Zu einem langweiligen Leben auf dem Land. Zum anderen.

Ein weißes Zelt, das auf einer Wiese steht, einem Acker, einem Parkplatz. Aufgestellt von der freiwilligen Feuerwehr, dem lokalem Fußballverein, der hiesigen Landjugend. Ein Wochenende im Jahr weicht in diesem weißen Zelt die ewige Tristesse des immer öden Dorflebens dem zeitweiligen Wahnsinn eines Zeltfestes. Am Sonntagvormittag ist Frühschoppen. Bratwurst, Bier und Volksmusik. Grillhuhn, Weißwein und Blasmusikorchester. Vielleicht findet auch ein Gottesdienst statt, am besten draußen auf der Wiese vor dem Zelt. Wenn nicht, geht die Post halt erst nach der regulären Messe im Gotteshaus ab.
Der Abend davor gehört den mobilen Discos der Region. In deinem Fall heißen diese Happy Sound, Master Sound, Weißderteufelwasfürein Sound. Frühschoppen ist nicht dein Fall, die Disco auch nicht, dort bist du aber trotzdem anzutreffen. Jedes Wochenende von Mai bis Oktober in irgendeinem anderen Kaff in einem Umkreis von dreißig Kilometern. Zu Fuß, mit dem Moped oder mit irgend jemanden im Auto. Warum? Weil es sonst nichts gibt, wo du hingehen könntest. Weil die Alternative zuhause hocken und mit den Eltern „Wetten Dass?“ schauen heißt. Weil eine Punkrockshow in deiner Gegend niemals stattfinden wird und die große Stadt, wo du später immer abhängen und noch später sogar wohnen wirst, zwar mit dem Zug erreichbar ist, aber ohne deinen Vater und dessen Auto an ein Nachhausekommen nicht zu denken ist. Deine Mitfahrgelegenheiten hier in deinem Dorf bringen dich höchstens zum nächsten Zeltfest. Und deswegen bist du eben auch dort. Du bist dagegen, aber trotzdem da. Die Neunziger Jahre sind eine schreckliche Zeit. Musikalisch gesehen zumindest. Euro-Dance-Schrott ohne Ende. Blümchen, Haddaway, Dr. Albern. Wenn es ganz hart zugeht, jagt der DJ Scooter durch die Boxen. Hyper, hyper. Nicht zu vergessen: Die Hardrock-Viertelstunde. Green Day, The Offspring, Nirvana. Hosen, Ärzte, Böhse Onkelz. Mehr Subkultur geht nicht und ohne Onkelz geht gar nichts. Schlimm. Zum Eurodance-Geballer springen alle mit Trillerpfeifen im Mund über die Bretter der Tanzfläche, in der Hardrock-Time bangst du ausgelassen deinen Head, bei den Onkelz gehst du Bier holen.
Zeltfest. Saufen, Prügeln, Geschlechtsverkehr. Eine Schlägerei pro Abend ist Pflicht, du, Hippiepunk, der du nun einmal bist, bist da aber nie dabei. Irgendjemand kommt meistens aus irgendeinem Busch und erzählt nachher, er oder sie hätte gerade sein oder ihr erstes Mal gehabt. Auch da bist du nie dabei. Und meistens kotzt irgendjemand irgendwann später in dasselbe Gebüsch. Zumindest, wenn es darum geht, bist du hie und da dabei.
Zeltfest. Du willst da nicht sein, gehst aber trotzdem hin. Aber dafür zahlen, nein danke, denkst du dir einmal, als du etwa sechzehn Jahre alt bist und bereits die Oberstufe besuchst, und springst wie alle anderen auch von dieser kleinen Brücke auf das Festgelände. Denn wenn alle von der Brücke springen, tust du dies selbstverständlich auch. Veranstalter des Abends ist der ortsansässige Sportverein und dein ehemaliger Biologielehrer aus der Unterstufe in diesem wohl irgendwie aktiv. Heute Abend steht er an der Kasse und hat auch die kleine Brücke gut im Blick. Könnte ja jemand gratis hineinspringen wollen. Zweimal hast du ihm in deiner Schulzeit die Durchführung eines Tests vereitelt. Einmal, weil du deinem Sitznachbarn Manuel in die Hand gestochen und einmal weil du von deinem Jugendschwarm Meike eine Fuhre Pfefferspray ins Gesicht bekommen hast. Heute hingegen vereitelt dir der Lehrer den Gratiseintritt. Heute sitzt er am längeren Ast. Rein darfst du dennoch, zahlen musst du halt das Doppelte. Machst du es trotzdem? Zahlst du den Preis, den zu zahlen von dir verlangt wird? Natürlich, wo sollst du denn sonst hin?

Zeltfest. Was bist du froh, dass das alles irgendwann endlich wieder vorbei ist. Für dich zumindest.