Eine Kolumne von Kristjan Knall.
Teil II

Ein paar erschöpfte Biere und eine Tourischlägerei später ist es Dienstag. Letztes Flyern, Wannen verfolgen die Papierterroristen im Schritttempo. Alle 10 Minuten grollen sie am Syndikat vorbei. Alle Frauenschläger, Räuber und Mörder können ein paar Straßen weiter auf dem Tisch tanzen. Die Staatsmacht setzt Prioritäten: den Selbsterhalt. Wir begrüßen Sie mit einer La-Ola-Welle.
Manche Menschen werden von Menschen nicht groß mitgenommen. Die steigen über Leichen in Indien, die sehen sich Scheiß im Internet an, der so krank ist, dass selbst Allah sich mit Grauen abwenden würde, die mögen Zitroneneis und Schmerzen. Oft sind sie auf anderes gepolt, auf Orte. Das Syndikat ist jetzt komplett leer. Kein Tisch, kein Stuhl, nicht mal mehr die Bar. Die Wände sind kahl, blutrot und schwarz. Es sieht aus wie das Innere eines Magens – oder die Hölle. „Das muss weg, sonst schlagen die Bullen alles kurz und klein und lagern den Müll dann auf unsere Kosten jahrelang ein“, sagt einer vom Kollektiv. „Aber wenn wir die Räumung verhindern können, ist alles im Handumdrehen wieder da.“ Bis dahin wird vor dem Syndikat revolutionär Bingo gespielt. Alle paar Minuten treffen Menschen ein, die sich vom Syndikat verabschieden wollen. Plötzlich hält ein Sprinter. „Ausladen oder tragen?“ Sofort habe ich ein riesiges Zaungitter in der Hand, zu zweit tragen wir es bis in den Hof. Davon 20. Um den Laden von innen dicht zu machen? Für Barrikaden? Als Grillrost? Keine zwei Minuten, und der Spuk ist vorbei. Die nächste Wanne torkelt um die Ecke.
Beim Schreiben soll man keine Klischees benutzen, besonders nicht solche wie „Tag der Entscheidung“. Doch genauso fühlt es sich im ganzen Kiez an. Manchmal ist die Wirklichkeit das schlimmste Klischee. Schon Donnerstag sperren die um die Zivilbevölkerung bemühten Polizeibeamten die Weisestraße und Herrfurthstraße ab. Bewohner werden drangsaliert, fast niemand kommt mehr durch. „Diese Einrichtung von roten Zonen ist im Grunde mit den Bürgerrechten und der Pressefreiheit nicht vereinbar“, sagt der Journalistenverband. Nur so fühlen sich Polizisten hier sicher, bewaffnet, schwitzend unter der Schutzweste. Vielleicht besser eine grüne Zone einrichten wie in Bagdad?
„Scheißbullen!“ Mit der Dunkelheit geht es los. Konzerte und harte Ansagen an die Staatsmacht: „Nimm die Fäuste runter, du Machoschwein!“ Aber Frohsinn steht nicht auf dem Programm. „Wir wissen, hier schön einen zu trinken wie im Syndikat wäre jetzt was, aber verteilt euch. Seid kreativ. Lasst sie laufen.“ Gegen Mitternacht fängt es an. Erst Böller, dann Flaschen, dann Barrikaden. In der Straßenschlucht brennt es so hoch, dass die Feuerwehr kommen muss. Die Hermannstraße wird blockiert. 30 Polizisten werden verletzt, wobei das oft heißen kann, das sie sich wie beim G20-Gipfel mit ihrem eigenen Pfefferspray ins Gesicht sprühen. Die ganze Nacht rasen Wannen durch den Kiez und ziehen Leute vom Bürgersteig weg. „Drei Typen vor mir, auf einmal kommen Zivis, so richtig mit Anlauf, und zerren die in die Wannenwagenburg. Echt keine gute Zeit jetzt, allein zu sein“, sagt ein Anwohner. Vermittler mit dem Adrenalinpegel von Hubschrauberpiloten versuchen, ihnen zu entkommen. Die Medien werden, so wie es sich in einer guten Demokratur gehört, geschasst. Die Journalisten werden nicht von einem besoffenen rechten Mob, sondern von den Polizisten als „Influencer“ beschimpf oder in bester AfD/NSDAP-Manier als „Gesinnungsjournalisten“. Man muss nicht besoffen sein, um ein rechter Mob zu sein. Ein Polizist baut sich in Hauchweite vor einem Taz-Journalisten auf und fragt: „Wie wäre es, wenn ich Sie in Ihrem Büro besuchen würde?“
„Die 11, 20 und 21 sind offen.“ Auf dem Boden liegt eine zerschnittene Plastikflasche. Ein Fahrradkurier braucht kein Fahrrad, er ist so auf Sendung, sprich auf Speed, dass er wie ein geölter Blitz mit dem halbrunden Teil der Plastikflasche Türen in der Nachbarschaft deprivatisiert. Jetzt können sich Autonome vor den Schlagstöcken des Rechtsstaats verstecken. Auch andere langen kräftig zu. Den wirklich harten Kern erkennt man daran, dass er heute vor allem auf einer Droge ist – Adrenalin.
Der Teppich klatscht auf den Asphalt, es ist morgens um sechs vor den Barrikaden an der Herrfurthstraße. Die Verstärker knirschen, eine Rückkopplung schreit durch die Häuserschluchten, dann eine Stunde hartes Geschrammel direkt ins Gesicht des unfreiwilligen Polizistenpublikums. Die Bewohner sind schon wach, früh morgens piepen überall die Rauchmelder wegen des Tränengases. Trotzdem ist die Luft sauberer, als wenn der Verkehr hier am feinstaubbelastetsten Bezirk der BRD fließt. Ein Lastwagen versucht, Zäune gegen Menschen auszufahren, er wird Hermannstraße Ecke Selchower Straße blockiert. Ein gefährlicher linksextremistischer Terrorist liegt vor den Rädern in der Morgensonne und hält ein Nickerchen. Was würde der für im Polizistenslang „passive Gewalt“ berüchtigte Straftäter Gandhi dazu sagen? Die Hermannstraße wird blockiert, doch die Herrfurthstraße bleibt offen. Es sind einfach zu viele Polizisten, der schwarze Block kann nicht durchbrechen. Zwei Hubschrauber kreisen nonstop, unzählige Wannen, schätzungsweise 700 Bereitschaftspolizisten, sprich: Knüppelbullen. Vor dem Syndikat stürmt die Menge gegen die Polizisten vor. Einer zeigt einem Polizisten auf die Brust: „Du hast da was.“ Der älteste Trick der Welt. Er guckt tatsächlich und hat den Finger am Kinn. Panik in seinen Augen, der Rechtsstaat wankt. Ein riesiger fliegender Pflastersteinballon zerplatzt über den Köpfen, roter Rauch verteilt sich. Es ist so schön, wie eine Apokalypse werden kann.
Gleichzeitig wird der Gerichtsvollzieher eskortiert ins Syndikat gefahren. Wie schon die Henker im Mittelalter, stets begleitet von Geistlichen, einem Gehilfen des Scharfrichters und einer Eskorte von Bürgerkavallerie. Den Geistlichen spart man sich heute, man glaubt an den Markt. Um 09:12 Uhr ist „Besitz ergriffen“. Gerichtsvollzieher und Polizisten verschwinden im Inneren der Kneipe, während ein Mann von einem Balkon darüber die Stimmung auf den Punkt bringt: „Schande, Schande, schämt euch!“ Schämen sollte sich vor allem Frank Bossin. Ein richtiges Herzchen und Menschenfreund, der über Neuköllner Sätze sagt wie: „Hier sind die Leute teilweise jenseits von Gut und Böse“, oder: „Die sitzen den ganzen Tag vorm Fernseher, gucken Gameshows und leben von Hartz IV.“ Er ist sicher zufrieden, dass er die Welt für einen steuerhinterziehendes Unternehmen besser gemacht hat, und natürlich für den Rechtsstaat eingetreten ist. Zur Erinnerung: Der Staat, der auf Privatsphäre wie beim Bundestrojaner scheißt, auf das Völkerrecht bei Angriffskriegen und Korruption wie bei schwarzen Kassen der CDU. Eigentlich ist er schon gestraft genug, an einer dröhnenden Straße in einem fiesen 60er-Jahre Bau im sterbensöden B-Tarif leben zu müssen. Ironischerweise dort, wo die Neuköllner, die er rausschmeißt, hin vertrieben werden. Wenn er das Ghetto zerstört, kommt es eben zu ihm. Die Antifa war schon da: „Frank, wenn du so ein harter Hund bist, warum hast du unsere Schriftzüge ganz schnell abwischen lassen? Warum hast du an deiner Tür kein hübsches Schild, auf dem deine Berufsbezeichnung steht? Warum nicht mal öffentlich Gesicht zeigen, Frank? Ist es dir vor deinen Nachbar*innen etwa peinlich, dass du dein Geld damit verdienst, Menschen obdachlos zu machen? Oder hast du Angst zur Rechenschaft gezogen zu werden?“
Nein, das ist kein Aufruf zur Straftat. Das ist Transparenz, so wird Verantwortlichkeit geschaffen. Genau wie Stasi-Mitarbeiter, wie Mitarbeiter im Konzentrationslager, wie Henker. Jeder ist verantwortlich. Das Urteil der Geschichte liegt, Jahre nachdem alle Machtinteressen weggestorben sind, erstaunlich selten daneben, lieber Foucault. Bossins steht noch aus. Besonders aber das der Verantwortlichen: Der Linken-Abgeordnete Niklas Schrader twitterte zwar von einem „martialischen Polizeieinsatz“ und forderte einen anderen Umgang „mit bedrohten Projekten“. Schön, aber wen kümmert verdammt nochmal Twitter? „Wäre doch ein super Grund für die Linkspartei, die Koalition zu beenden, but wait, regieren macht mehr Spaß als Opposition“, antwortete ein anderes Vögelchen. Oder: „Der rot-rot-grüne Senat kennt nur noch polizeiliche Lösungen für soziale und politische Probleme.“ Die Grünen heulen, dass mit der Kneipe „erneut ein Teil Neuköllner Kiezkultur verloren“ gehe. Bitte definieren Sie Lippenbekenntnisse. Was hätten die tun sollen? Ganz einfach: da sein. Sich vor das Syndikat setzen. Wie der Bürgermeister von Portland auf der Straße mit den Leuten reden und, wenn nötig, sich Tränengas einfangen. Das sein, was Politiker sein sollten: verantwortlich. Kiezbewohner werden nachher im Interview sagen: „Die een, zweee Barrikaden, die hättenwa früher noch wegjekloppt.“ Scheiß Twitter, verweichlicht die Leute.
Das Ende? Nein. Das Kollektiv und Unterstützer treffen sich bei einem solidarischen Kaffee an der Ecke. Gegenüber Polizisten, die sie anstieren. Einer fragt, unfassbar witzig: „Ist das Syndikat schon geräumt?“ Deeskalation sieht anders aus, Provokation nicht. Es gibt einen angepissten Mittelfinger. Darauf hat er nur gewartet, er holt seine großen Brüda. 20 Minuten später rast eine Wanne heran, die Mittelfingerwerferin wird festgesetzt. Allen Ernstes. Sie soll sogar in einen kleinen Drahtkäfig in der Wanne, wie die Mörder und Vergewaltiger in amerikanischen Filmen. Sie weigert sich, das darf man. Sie und die meisten von euch wissen mehr von dem, was machtbesoffene Polizisten dürfen, als die selbst. Die Vorhänge, die sie aufziehen will, werden wieder zugezogen. So, wie man es mit guten Staatsgefährdern eben macht. Am besten, sie käme gleich weiter nach Bautzen oder Guantanamo. Aber nicht All Cops Are Bastards. Einer bietet ihr fröhlich einen Kaffee an. Die Welt kann so verfickt schön und gerecht sein.

Fortsetzung folgt.

Quellen:
https://www.tagesspiegel.de/berlin/kritik-an-polizeiarbeit-bei-der-raeumung-des-syndikat-berliner-polizisten-sollen-journalisten-bei-der-arbeit-behindert-haben/26082478.html; 11.08.20.
https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/700-polizisten-setzen-raeumung-der-kiezkneipe-syndikat-durch-li.97504; 12.08.20.
https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/berlin-neukoelln-der-hinterhof-der-hauptstadt-a-570220.html; 12.08.20.
https://chronik.blackblogs.org/?p=12843; 13.08.20.
https://www.cbsnews.com/news/portland-protest-mayor-ted-wheeler-tear-gas-federal-agents/; 12.08.20.