Eine Kolumne von Kristjan Knall.
Teil III

„Cornern“ ist seit Corona das Neue „In der Bar abhängen“. Insofern liegt das Syndikat voll im Trend. Mittlerweile cornern davor mehr Leute, als früher im Syndikat waren. Einige vom Kollektiv kommen vorbei, es gibt Schnaps vom Tablett. Ein paar Abende später cornern nur eine Handvoll Subjekte. Sie trauern. Das ist selbst im deutschesten aller Deutschländer legal, jeder kann auf jedem Bürgersteig sein Bier trinken, wo er will. Noch sind wir weder in Weißrussland noch in Saudi-Arabien. Das sieht die Polizeieinheit, die sofort vorfährt, anders. Sie stellt einen Platzverweis aus. Großes Geschrei, die Nachbarn filmen und beschimpfen sie von den Balkonen. Die Polizisten weigern sich, den Platzverweis schriftlich auszustellen, obwohl sie das auf Anfrage müssen, damit man dagegen vorgehen kann, wenn er absolute Willkür ist wie jetzt. Schließlich kommt der betagtere Bulle und stellt das Schreiben aus. Er hat dit schon allet zich mal jesehen, ihm jeht dit auf die Nerven. Habdichmaniso. Die Jungen hätten am liebsten noch reingeknüppelt. Sie sind das, was man früher Kanonenfutter nannte. Opferbereite junge Muskelpakete, die nur darauf warten, die Welt schlechter zu machen. Einer zischt einen Sitzenden an: „Wenn du willst, können wir nachher noch ein Tänzchen machen!“
Das war es immer noch nicht. Samstag nach der Räumung soll es um 19 Uhr eine Demo auf dem Richardplatz geben, dem Kurfürstendamm Neuköllns. Ich poste verweichlicht: „Ab auf den Richardplatz, der snobige Besteckladen ist schuld an allem!“ Der User „Wotan der Schlächter“ (und Ironieversteher) war freundlich genug, meinen Post gleich an die Polizei weiterzuleiten, bevor Twitter ihn löschte. Da ist so viel kaputt, da kann man nicht mehr helfen.
Der Richardplatz ist voll, plötzlich geht es los. Steine, Büros, Flaschen, Feuer. Der schwarze Block rennt in eine Seitenstraße und wird sofort eingekesselt. Das war’s. Fünf Minuten Krawall. „So was Dilettantisches!“, sagt der alte Anarcho, der die Zivilpolizisten entdeckte. Vielleicht sind alle auch nur richtig fertig. Selbst die Polizei knüppelt nur noch unmotiviert. Der Kessel wird nach zwei stunden Geschrei 50 Meter weiter an die Ecke zum Karl-Marx-Platz verschoben, dort ist zufällig ein Späti. Die Schreie werden leiser. In der Nacht sprechen Taten. „Jede Räumung hat ihren Preis“, heißt es in der linken Szene. In den vergangenen Tagen gab etliche Anschläge auf Autos und Büros von Immobilienunternehmen. Das Kapital brennt.
„Hat sich alles gelohnt?“, fragt der gute Kapitalist. Hätte man die SPD-Zentrale nicht nachts in einer kurzen knackigen Aktion mit Steinen eindecken können? Das Arbeitsamt und das Bürogebäude mit Farbbomben? Zur Hauptverkehrszeit mit einem Flashmob die Hermannstraße blockieren (obwohl der groß sein müsste, sonst wird man wirklich totgeschlagen)? Sind das nicht alles Krawalltouristen? Gegenfrage: Wer lässt sich gerne freiwillig von hoch ausgerüsteten Demokratieunterdrückungseinheiten verprügeln? Das ist kein Spaß, das sind Schmerzen, und nicht die, auf die man steht. Die Kiezbewohner sagen: „Ja, das war es wert.“ Es geht um das, was im Kapitalismus out ist: weiche Faktoren. Solidarität. Gerechtigkeit. Die Vision einer besseren Zukunft. Natürlich wurde das Fenster eines Passats eingeschmissen, natürlich ist das scheiße. Doch jetzt, wo alles vorbei ist, ist die Hermannstraße wieder tausendmal so laut und gefährlich. Dort brechen täglich Knochen. Die überwältigende Mehrheit der Menschen im und über den Kiez hinaus steht hinter dem Syndikat. Besser mit einem Knall untergehen als aufgeben. Das Wilde, Freie, Progressive, weswegen viele nach Berlin kommen, existiert nur, weil es in den 60ern, 70ern und 80ern widerständigen Geist gab, der vor der Macht nicht kapitulierte – besonders wenn es aussichtslos schien. Es ist der Geist, der die Grünen, die Linken und, man glaubt es kaum, vor hunderten Jahren sogar die SPD hervorgebracht hat. Ordnung tendiert zu mehr Ordnung und gleitet wie gerade in den USA in den Faschismus ab. Wie Philipp Ruch vom Zentrum für politische Schönheit sagt: „Demokratie muss was kosten.“ Einen Blog zu schreiben reicht eben nicht. Oder ein Buch.
Vor allem aber wurde „das System“ in seiner Monstrosität vorgeführt. Eine Wanne mit Polizisten kostet am Tag tausende Euro. Einer der zwei konstant kreisenden Helikopter kostet pro Stunde 4368,77 Euro, ohne Personal. Dazu noch Lastwagen, Gitterzäune, Planung – da sind wir fast beim BER der Polizeiarbeit. Ein Fußballspiel zu sichern kostet 425.718,11 Euro, der G20-Gipfel in Hamburg kostete 27,7 Millionen, nur für die Polizei und Hilfsorganisationen. Bei 31.000 Polizeibeamten dort und 700 beim Syndikat, kommt man auf 625.483 Euro. Mal die zehnfache Länge eines Fußballspiels: 6,25 Millionen Euro. Dafür hätte das Syndikat ungefähr noch mal sein Alter mal zehn existieren können: 350 Jahre. Ach, wisst ihr was? Man hätte das ganze Haus der Immobilienfirma Pears Global abkaufen und den Mietern lebenslang die Miete spendieren können. Viele kotzen, dass bei einer „Verstaatlichung“ (es ist keine, es ist ein Kauf), ein teurerer Preis bezahlt wird, als die Immobilien irgendwann in den verrückten 90er Jahren kosteten. Wie bei der Fleischindustrie, bei der der zerstörte Planet nicht eingerechnet wird, ist das eine Milchmädchenrechnung. Der Aufwand, den die Staatsmacht jetzt betreiben musste, um eine kleine Kneipe zu räumen, schadet der Gesellschaft finanziell um einiges mehr, als wenn man die rationale Lösung verfolgt hätte: Eine luxemburgische Briefkastenfirma zu enteignen und das Gebäude denen zu geben, die drin wohnen.
Vor allem aber hat der Kampf um das Syndikat den Kiez und die gesamte Linke zusammengebracht. Jede Bewegung braucht Momente. Bei den Grünen der Kampf gegen die Atomkraft, bei Occupy die Krise nach dem Zocken der Wall Street, beim Zentrum für politische Schönheit der Kampf gegen die AfD. Wenn das Syndikat eins geschafft hat, dann ist es, vom Biertrinken in der Kneipe wegzukommen. Es stimmt, das Syndikat ist keine Bar mehr. Es ist eine Bewegung.

Das Syndikat ist tot. Es lebe das Syndikat!