Von Laura Alt.
Ok, die Pflegekräfte arbeiteten schon vor Corona am Limit. Und auch ohne FFP2-Maske war Einkaufen schon eine Zumutung. Aber bevor Menschen überall auf der Welt an einem Virus starben, bevor den Sargtischlern in Mexiko-Stadt, Rio und New York das Holz ausging und in irgendeinem ostdeutschen Kaff voller maskuliner Querdenker mit Spitzenslips über der Nase und 800er-Inzidenz die Bestatter an Burnout litten, weil sie mit dem Verbrennen nicht mehr hinterherkamen, war unser Leben besser. Wir machten Sachen, draußen, drinnen, zusammen. Und wir machten uns auch gern über Sachen lustig. Über Boomer zum Beispiel. Abgeleitet von der „Babyboomer“-Generation, meinten wir damit Leute mit geistig und meistens auch biologisch fortgeschrittenem Alter, die ein eintöniges bürgerliches Leben führten, staatstreu waren und gerne über diejenigen schimpften, die sich nicht so wie sie verhielten … Ich glaube, ich habe da ein Problem. Wir haben ein Problem.
Fast schon vergessen scheinen die Ängste des Frühsommers 2020, als von einem „neuen Biedermeier“ die Rede war, dem Rückzug in die gute alte patriarchal organisierte Kleinfamilie. Die Frage „Wer kümmert sich um Haushalt, Homeschooling und Hirsebrei?“ wurde von vielen in altbewährter Methode beantwortet: Mama. Und dann kamen Studien, die das bewiesen, und dann kamen romantische Tagesthemenbeiträge über barttragende Hipsterväter, die das entgegen dieser Studien selbst erledigten. Egal, dass viele entweder keinen Bock oder nicht die finanziellen Mittel dazu hatten, in einen echten 19th-Century-Biedermeier zurückzufallen, während sie den halben Tag vor Netflix hingen und 20th-Century-Fox-Filme schauten.
Denn während wir in Skype-, Zoom- und altmodischen Telefongesprächen darüber klagen, dass die Inspiration fehlt, die Abwechslung, die Konzerte, die Kneipenabende, die fehlende Wärme einer menschlichen Umarmung im wahrscheinlich letzten kalten Winter, bevor wir die ganzen Fabriken wieder anschmeißen … während der Lockdown von Lowcarb auf Keta umgestellt und vermutlich bald in einer anderen diätenfördernden Vorwahlkampfform verlängert werden wird, merken wir gar nicht, dass wir längst genau da angekommen sind. Im Biedermeier des 20. Jahrhunderts: Wir sind Boomer geworden.
Es ist eine schleichende Krankheit, die nicht so schnell tötet wie Covid im Altersheim, aber trotzdem Angst macht. Angst davor, wie es weitergehen soll, wenn unsere Lieblingskonzerne, die Pharmakonzerne (Witz für nicht-Boomer, die zumindest früher gerne Elektropunk gehört haben), es geschafft haben werden, alle Mutanten zu mutilieren. Denn all diese Sachen, die wir gemacht haben, draußen und drinnen und zusammen, das richtige Leben, es fehlt zwar, aber es tut schon nicht mehr ganz so weh. Ich spreche gerade mit vielen, die sagen, sie sind einfach nur noch müde. Müde vom Lockdown, müde von der Langeweile, müde von den alten Bewältigungsstrategien, die im letzten Jahr vielleicht noch den Anschein gemacht hatten, sie könnten helfen. Müde davon, anti zu sein. Müde vom Versuch, durch eine Nacht mit Bier oder Wein vorm PC mit eindimensionalen, quadratischen, verzweifelten Bildschirmfreunden oder in Ermangelung dieser mit irgendeinem eindimensionalen, quadratischen und verzweifelten Künstler bei einer Onlineveranstaltung irgendwie das Gefühl eines guten Abends in präpandemischen Zeiten nachempfinden zu können. Das klappt nicht und es hilft nicht. Die Würfel sind gefallen, wir müssen uns arrangieren und klarkommen.
Es ist gut, wenn wir jeden Tag Sport machen, um irgendwie schlafen zu können, weil wir einfach zu viel Energie vom Nichts-außer-Arbeit-Trott in uns haben. Es ist sogar gut, wenn wir gerade wie der größte Alman Socken in Hausschuhen tragen, um nicht zu frieren und krank zu werden und zum systemrelevanten Arzt zu müssen. Und bevor wir aus Langeweile zu Alkoholikern werden, ist es auch ok, unsere Wut auf die Welt in feministischen Hörerbriefen an alte weiße Männer vom Deutschlandfunk rauszulassen. Oder sie alleine in der Wohnung rauszutanzen (die Wut, nicht die Männer). Oder Teenager anzupöbeln, die in Rudeln vorm Haus rumlungern und es witzig finden, 10 Minuten bei einem Nachbarn rhythmisch Sturm zu klingeln, wenn man selbst gerade vor dem Rechner sitzt und versucht zu funktionieren und weiterzumachen. Diese Teenager versteht man dann irgendwann nicht mehr. Man fragt sich, warum die nicht einfach draußen Punk hören, um anzuecken, anstatt sich zu fünfzehnt in einer Wohnung zu treffen und den Inzidenzwert auf ihre Herzfrequenz bei ineinander verkeilten Zahnspangen in einem Dauerzustand sexueller Frustration anzuheben (Note to self: Das mit dem Jugendbashing klappt auch schon ganz gut! Luft nach oben, irgendwas mit TikTok einfügen).
Ja, wir haben ein Problem. Denn egal wie viel wir heulen, meckern oder uns in die „gute alte Zeit“ zurücksehnen – übrigens noch so ein Boomer-Ding –, es ist gerade schwierig, dagegen zu sein. Weil wir auf uns und auf andere aufpassen. Und das ist gut, aber wir gewöhnen uns daran. Nicht ins Theater oder zu Lesungen zu gehen, nicht mehr als mal zwei Leute draußen für einen kurzen Spaziergang bei Schneesturm zu sehen, keinen Körperkontakt zu haben, uns vor anderen Menschen zu ekeln, abends ab 8 wegen einer unsinnigen Ausgangssperre zu Hause zu sitzen, Abstand zu halten, allein zu sein, uns um uns zu kümmern, ein furchtbar gesundes Leben zu führen, ein ereignisloses Leben zu führen – und damit klarzukommen. Wir hängen heute im Trott von mittelalten Boomern fest, die sich schon vor Corona in ihrer winzig kleinen Welt aus Haushalt und Arbeit und Fernsehen murmeltiertagmäßig im Kreis gedreht haben, bis ihnen so schwindelig war, dass sie an unsichtbare Hände glaubten, die sie irendwann da rausholen würden.
Wir haben uns in einem Jahr Pandemie daran gewöhnt und es klappt zumindest bei mir erschreckend gut. An manchen Tagen klappt es allerdings nicht. Und diese Tage sind wertvoll, die müssen wir uns erhalten. Denn irgendwas müssen wir dagegen tun, dafür tun, dass das alles nicht so bleibt, wie es gerade ist. Es wird nicht wieder wie früher. Aber wenn wir auf der Couch sitzen und unsere Füße auf dem Fliesentisch ablegen, sollten wir im Hinterkopf behalten, dass genau das früher mal eine gute Sache war. Also schenkt euch ab und an im Spiegel ein Lächeln und sagt „No Future“ zu eurem inneren Boomer. Ich fang gleich damit an, nachdem ich die Polizei auf diese epidemiegesetzeslosen Jugendlichen im dritten Stock gehetzt habe.
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