Eine Kolumne von Kristjan Knall.
Teil I

„Hurensohn!“, schreit der Polizeibeamte einem Mann, Typ Jogger, hinterher, nachdem er versucht hat, ihm ein Bein zu stellen. Er ist nicht nur Freund und Helfer, sondern auch auf der Hermannstraße kulturell absolut angekommen. „Hier möchte ich nicht mal tot über dem Zaun hängen!“, reicht nicht mehr. Jetzt werden Zäune gebaut und Zähne eingeschlagen.
Es ist Samstag, der 01. August 2020, und alle kotzen. Besonders die ältere Dame, die gerade mit tausenden anderen das „Ende der Pandemie“ verkündet hat, so, wie damals Ronald Pofalla das Ende der Spendenaffäre. Sie lernt von den Besten. Wenn die CDU sich das nächste Mal wundert, wieso ihre Klientel in den Faschismus abdriftet, sollte man sie für beendet erklären.
Schnellrücklauf um zehn Minuten, ich begaffe mit einer Freundin Rollschuhhipster auf dem Tempelhofer Feld. Sie drehen Pirouetten und das Elend der Welt oder zwei Straßen weiter geht sie einen Scheiß an. „In einer Zeit wie dieser ist es ein Verbrechen, über Bäume zu reden“, sagte Bertolt Brecht. Ist Rollschuhfahren ein Genozid an Möglichkeiten?
Silvesterraketen explodieren über dem Schillerkiez. Die Freundin, nennen wir sie Rosa Luxemburg, ist so demoerfahren wie Kaiser Friedrich. „Da ist eine Demo, für das Syndikat, könnte ruppig werden. Willst du mit?“ Sie studiert in Dresden, Typ Nerd. Sie kotzt im Strahl über eine Stadt, in der viele Leute ihre Freundschaft ablehnen, weil sie „zu links“ sei. Das bedeutet Feministin sein. Migrationshintergrund haben. Sich darüber aufregen, wenn ein Radfahrer, weil er eine Straßenmarkierung übersieht, von einem Polizisten vom Rad getreten wird. Ihre ganze Wut, ihr ganzer Frust entlädt sich in einem Wort: „Ja.“
„Das ist die Antifa? Da sollte man lieber das Anti wegnehmen!“, krächzt eine Oma. Der Herrfurthplatz ist voll vom schwarzen Block. Hier wird kein Zierdeckchen auf dem anderen bleiben. Indoktrination im Schnelldurchlauf: Luxemburgische Briefkastenfirmen kaufen Häuser und schmeißen alle raus. Mietsteigerung um 100 % in 10 Jahren. Der Oma ist zünftig schlecht, sie grimassiert vor kognitiver Dissonanz in einer zu komplexen Welt, in der man keine liebsten Feinde haben darf. Dass es auch eine Demonstration gegen Coronaleugner ist, wird sie früh genug erfahren.
Plötzlich rennen alle. Die Demo wird aufgelöst, bevor sie beginnt. Bengalos leuchten hellrot, Gitter und Elektroroller werden auf die Straßen gezerrt, dazu Mülltonnen, die in Flammen aufgehen. Eine kokelt vor sich hin, vor ihr zwanzig Fotografen. Ein Foto, das morgen Tageszeitungen schmücken wird, damit alle schön Angst vor Krawall haben können, der vor allem in den Medien passiert.
Auf der Hermannstraße schreien urige Berliner Assis aus der Stampe: „Geht nach Hause!“ „Geht doch rüber!“, passt ja leider nicht mehr. Die Logik ist die gleiche: Das Fremde soll weg. Die Polizei kommt kaum nach. „Wieso rennen die so?“ Rosa ist fasziniert. Sie hat ihren Sport-BH nicht dabei. Das kommt vom elenden Hipstersport Bouldern. „Was macht der da?“, fragt sie über einen Autonomen, der neben dem Reifen eines BMWs sitzt. „Ein Lagerfeuer, was sonst?“ Sie will weiter nach vorne, wo der schwarze Block sich mit Regenschirmen bedeckt. Besser nicht, ein schwarzes Sommerkleid ist nicht das Outfit für den Anlass. Wir bleiben bei der Spaßfraktion, hinter Humor kann man sich verstecken.
„Ziften in der Demo!“, schreit ein alter Anarchist. Tatsächlich, zwei auffällig unauffällige Männer im perfekten Normcore-Outfit haben auf einmal sehr viel Platz. Ein Böller explodiert neben ihnen und schüttelt sie durch. An der nächsten Ecke verschwinden sie. Plötzlich geht es in die Kopfstraße, nicht zur Methadonklinik, sondern zur SPD-Zentrale. Steine zerschmettern das Glas, die böse Gewalt. Das Glas einer Partei, die Sätze verantwortet wie: „Polizeigewalt hat es nicht gegeben, das ist eine Denunziation, die ich entschieden zurückweise“ (Olaf Scholz zum G20-Gipfel in Hamburg),  „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ (Franz Müntefering, damals wohnhaft in Kreuzberg), „Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate“ (Thilo Sarrazin). Ach, nur Worte? Sie verantwortet auch Hartz IV, das allein für 1000 Suizide im Jahr verantwortlich ist, und den ersten Angriffskrieg nach dem Zweiten Weltkrieg. Was braucht es noch, um einen Stein gegen Gegenstände zu rechtfertigen, einen Reichstagsbrand?
Farbbomben und Steine klatschen auf dem neuen Glasbau Hermannstraße Ecke Flughafenstraße auf, das letzte Ziel. Hier entsteht, ganz „urban living“, ein Zwischending aus Hotel und Kurzzeitwohnen. Rauchbomben, blau, gelb und rot, selten war die Hermannstraße so schön. Die Polizei wird kurz die Flughafenstraße runter gedrängt, dann schlägt sie von allen Seiten zurück. Ab jetzt heißt es knüppeln, egal ob Farbbombenwerfer oder Transparenthalter. Eine Bekannte liegt auf dem Boden, ein Hüne in dystopischer Uniform auf ihr, Pfefferspray in der Fresse, sie schreit wie am Spieß. Ihre Freundin ruft: „Sie hat Panikattacken!“ Das richtige Stichwort, der Freund und Helfer lässt ab. George Floyd scheint sogar in der spießigen Mahlsdorfer Hölle, der er entwachsen ist, ein Begriff zu sein. Nur das Pfefferspray lässt nicht so schnell nach.
Rosa steht da, als würde sie über ihr Staatsexamen nachdenken, das in einigen Monaten ansteht, während alle um sie herum fliehen. Die unmenschlich schwere Prüfung, bei der frau ein blütenweißes Führungszeugnis haben muss. Sie lernt wie eine Besessene, aber Angst scheint für sie ein Fremdwort zu sein. Eingedenk dessen, dass ich ein widerlicher patriarchalischer Cis-Mann bin, greife ich sie am Arm und ziehe sie weg. Wir schaffen es gerade noch über einen Zaun in einen Hof, dann rennt das Gesetz vorbei und verleiht sich in Gesichtern Nachdruck.
Die autonomen Gruppen versprengen sich, Polizisten hechten hinterher. Laute Detonationen von Böllern erschüttern die Straße. In den Cafés sitzen Bezirksausländer in karierten Hemden und haben sehr, sehr viel Angst. Die einheimischen Türken finden alles eher geil und filmen mit ihren Handys. Im Rollbergviertel werden noch ein paar Barrikaden aufgetürmt, dann ist der Spuk vorbei. Drei Ziele, 40 Minuten Anarchie, ein Erfolg?
Die Freundin von Frau Panikattacke unterhält sich ruhig mit einem Polizisten, ein halbes Transparent in der Hand. Dann kommt ein anderer und versucht, sie ungelenk in einen Sicherheitsgriff zu manövrieren.
„Was soll das jetzt?“, fragt sie.
„Für die Sicherheit.“
„Ich steh ja auf Schmerzen, aber in anderen Kontexten.“
Da vergeht ihm die Lust.

Fortsetzung folgt.

Quellen:
https://www.freitag.de/autoren/fhp-freie-hartz-iv-presse/hartz-iv-zahl-der-toten-steigt-rasant-an; 11.08.2020.