Eine Kurzgeschichte von Joost Renders.

Es ist an der Zeit, von Kai Kröpelins tragischem Leben zu berichten. Wenn schon jede Woche eine neue Sau irgendwo durchs Dorf getrieben wird, muss auch mal Platz sein für diesen ebenso öden wie bemerkenswerten Menschen. Bemerkenswert, weil er es trotz widriger Umstände zu einem gewissen Bekanntheitsgrad in einer bestimmten lokalen Musikszene gebracht hat, öde, weil er im persönlichen Umgang und im Gespräch ein verdammter Langweiler war. Er konnte nur eins: die Schlaggitarre.

Geboren wurde Kai Kröpelin vor vielen Jahren in einem kleinen Dorf in einem engen Tal zu Füßen des Berges Sackpfeife im Rothaargebirge. Dort war sein Vater Chefmelker auf drei Gehöften, seine Mutter ist unbekannt. Dem Gemunkel nach war sie eine dieser wandernden Melkerinnen, die von Gemarkung zu Gemarkung zogen, um beim Melken auszuhelfen. Zur Zeit der Geburt von Kai Kröpelin war dieses Gehabe gerade der heiße Scheiß und so feierte und molk seine vermutliche Mutter, dass es eine Wonne war, und so entstand wohl auch der kleine Kai. Die vermutliche Mutter zog dann weiter. Vater Kröpelin zog den kleinen Kai gemeinsam mit sieben Geschwistern, die auf ähnliche Art und Weise entstanden waren, auf. Es war eine sehr traurige Jugend und eigentlich hätte Kai Kröpelin Bluesmusiker werden sollen oder Grufti, aber es kam anders. Bedingt durch einen Geburtsfehler, den der Vater auf die geflohene Magd schob, hatte Kai Kröpelin einen normalen und einen zuckenden und marodierenden Arm. So etwas gab es nur sehr selten und die beiden Bewohner dieser Gegend, die schwer religiös waren, hielten ihn für die Ausgeburt des Satans. Der Vater starb früh, woran wollte keiner wissen. Trotzdem konnte Kai Kröpelin ohne große Störungen eine belanglose Kindheit und eine gleichförmige Jugend verleben, höchstens mal unterbrochen von unkontrollierten Ausbrüchen seines Arms. Eines Tages bekam Kai Kröpelin von einem Landstreicher eine elektrische Gitarre geschenkt. Dabei war er bisher nicht durch Musikalität aufgefallen und auch seine Plattensammlung verhieß keinen Enthusiasmus. Der übliche Kram, den Leute eben so hatten: „Hotel California“ von den Eagles, „Vielleicht bist du ein Clown“ von Grobschnitt und irgendwas von Deep Purple. Trotzdem fing er an zu üben, es faszinierte ihn. Er träumte davon, wie Richie Blackmore von Deep Purple auf der Gitarre herumzujaulen, aber er konnte dank seines gestörten Armes nur Akkorde dreschen und das im Stakkato-Rhythmus.

Aber Kai Kröpelin hatte Glück. Es war die Zeit, als die Punkbands groß wurden und damit wurde auch ein neuer Gitarrenstil populär. Ausgehend vom harten Gitarrenbeat der Sechziger Jahre, wie etwa in „I can’t explain“ von The Who bis hin zu den Klassikern des Punkgenres, The Clash, wurde die sogenannte Schlaggitarre entwickelt. Es wurde im Stakkato auf die Gitarre geschlagen. Die populärsten Beispiele waren „Clash City Rockers“ von The Clash und natürlich deren „London Calling“. So wie letzteres wollten damals viele klingen und so stieß Pfeiffi & die Säcke, die populärste Punkband der Gegend, zufällig auf Kai Kröpelin mit seiner Schlaggitarre. Sie wollten unbedingt, dass er einsteigt. Er hatte eigentlich keine Lust, aber ließ sich dann doch überreden. Punkrock fand er allerdings furchtbar und aus Protest ließ er sich einen Schnauzbart wachsen und seine Haare regelmäßig mit einer Dauerwelle aufpudeln. Der eigentliche Gitarrist der Band, der sich Sid Schnauze nannte, war allerdings genervt, da sein Sidekick a) an nichts interessiert war, b) wie ein Idiot aussah und c) wenn, dann nur Grobschnitt, die Eagles oder Deep Purple hörte. Also stieg Sid Schnauze aus und schloss sich der neuen aufstrebenden Punkband Altbaumer Alptraum aus dem nahen Bad Laasphe an. Kai Kröpelin war jetzt der einzige Gitarrist der Band und er schlug die Gitarre, was das Zeug hielt. Zum Glück verhalf ihm das aber auch nicht. Er kriegte auch keine Groupies ab, die Angst, vor dem marodierenden Arm erschlagen zu werden, war groß, aber das begriff er nicht. Ab und zu half er auch mal bei Altbaumer Alptraum aus, immer dann, wenn Sid Schnauze Magenprobleme hatte, und die hatte er oft. So ging das ein paar Jahre und die beiden Bands wetteiferten um den Status der berühmtesten Punkbands des Rothaargebirges. Später lösten sich beide auf und keiner sprach mehr davon. Kai Kröpelin verschwand in der Obskurität, einige Freaks stellten Nachforschungen an und nannten ihn den „Syd Barrett des Hessischen Hinterlands“. Als ob das jemand brauchte. Aber auch diese Bezeichnung landete auf dem Müllhaufen der Geschichte.

Vor einigen Jahren stieg wieder das Interesse an dieser Musikbewegung von damals an, vor allem Plattensammler drehten durch. Zu ihrem Unglück hatten die beiden Bands zu Lebzeiten aber nie eine Schallplatte gemacht, es gab nur schlechte Proberaum-Aufnahmen auf Kassette. Das war aber egal, ein Wiederveröffentlichungslabel, das bei Discogs aktiv war, wollte Aufnahmen beider der Bands auf einer Vinyl EP veröffentlichen. Dazu sollte es dann auch ein großes Reunion-Konzert geben, aber nur mit einer Band, denn leider lebten nicht mehr alle Bandmitglieder. Die, die noch da waren, würden zusammen die vermeintlichen Hits von Pfeiffi & die Säcke und Altbaumer Alptraum eben in einer Band spielen. Sid Schnauze war schon mit 30 seinem Magenleiden erlegen und beide Sänger der Bands waren auch tot, einmal Drogen und einmal vor den Baum gefahren. Auch einer der Bassmänner hatte sich totgesoffen. Kai Kröpelin war allerdings unauffindbar. Seine zahlreichen Halbgeschwister hatten auch schon seit Jahren nichts mehr von ihm gehört, keiner wusste, wo er war. Aber es gab ja Google. Da fanden sie ihn, er lebte in Bayern und war ein hohes Tier bei einer Versicherung. Das war ja doll! Auf dem Foto hatte er keine Dauerwelle mehr, er hatte gar keine Haare mehr, aber immer noch diesen idiotischen Schnurrbart. Er kam und die Proben begannen, 1x Bass, 1x Gitarre (Kai Kröpelin) und 2x Schlagzeug. Kein Sänger. Das durfte dann jeder mal machen. Das Konzert war kein Triumph, es kamen auch kaum Leute. Die Plattensammler von Discogs blieben zu Hause, es waren nur ein paar Landarbeiter in der Hoffnung auf Freibier da. 

Das Ganze hatte für Kai Kröpelin kein gutes Ende. Als ihm die örtliche Melk-Computer-Programmiererin nach dem Konzert unerschrocken an die Wäsche gehen wollte, verstarb er vor Aufregung an einem Herzinfarkt. Jedoch wollte das ehemalige Dorfgroupie, jetzt Bürgermeisterin, ihn nicht sang und klanglos verschwinden lassen. Sie initiierte ein Denkmal an einer Jausenstation neben einem Heiligenbild am Fuße der Sackpfeife. Darauf war aber nur der Arm mit der Gitarre. Den Schnauzbart wollte keiner sehen.