von Kristjan Knall.
„Ey du Arschloch, wa rot oda? WILLST DU WAS AUF DIE FRESSE?“, lallt der Typ gescheiterter Handwerkskleinstunternehmer dem Radfahrer Oranien-, Ecke Adalbartstraße entgegen, wie es sich gehört. Der gibt zurück: „Halts Maul, du Spast!“ Der Handwerker torkelt ihm nach, schreit noch ein wenig, aber er ist nur noch ein Hund, der bellt. Ein glücklicher Hund. Es gehört sich so in Berlin. Der Bundesausländer könnte denken, hier ginge es unfreundlich zu. In München stände hier schon die Polizei, in Chemnitz eine Horde Skinheads, in Tübingen würde Boris Palmer von der Radfahrerpartei die Grünen daselbst als gottgleicher Herrscher ein Urteil fällen und exekutieren. In Berlin ist beleidigen eine Form der Höflichkeit. Sie bedeutet vor allem eins: du wirst wahrgenommen.
Der bis auf Boris Palmer mit Abstand klügste Mensch der Epoche ist Noah Yuval Harari. Der smartphonelose, meditierende israelische Geschichtsprofessor schrieb in „Homo Deus“, dass die großen Erzählungen des 20. Jahrhunderts, Kapitalismus, Faschismus und Kommunismus, immer den Menschen im Mittelpunkt hatten. Die jetzt übernehmenden Algorithmen brauchen uns nicht mehr. Darum ist jede Beschimpfung, jeder Schlag in die Fresse eine fast mütterliche Liebeszuwendung: Es gibt dich noch. Du bist wichtig. Ich glaube an dich. Natürlich bringt einen das zwingend zum Thema Fahrräder – und Männer.
Keine Angst. Das hier wird keine martensteineske Meine-kleinen-Probleme-ironiesieren-und-nebenbei-konservativen-Biedermeier-propagieren-Zeitverschwendung. Nichts ist langweiliger, als wenn Schreibende nichts erleben und das als Kunst verkaufen wollen. Am Ende steht ein Aufruf zur Revolution, versprochen, Genosse.
Die Szene an der Oranienstraße spielte sich sonntags um 10 Uhr ab. Ich war schon zwei Stunden unterwegs. Durch die postapokalyptisch leeren Straßen Neuköllns. Durch die Hasenheide, vorbei am Rave, dessen Restposten mich so blickfickten, dass mir nur vom vorbeifahren das Arschloch schmerzte. In den Tiergarten, wo sich Kanadagänse, Schildkröten und, verdammt nochmal, Eisvögel verlustierten. Ich habe zum Glück meine Kopfhörer vergessen. Ohne Beschallung ist das Denken extrem laut. Die Menschen sind freundlich, manche reden sogar mit einem. Sonntags ist die Welt, wie sie sein sollte. Eine Welt, in der nicht jeder gehetzt und gestresst ist, nicht jeder manisch von Aggression zu Depression taumelt. Sonntags ist sogar Berlin halbwegs erträglich.
Vor allem aber fahre ich Kiezpony. Das ist ein kleines, klappriges Ersatzrad einer Freundin, die es so oft nutzt, dass die Reifen schon moosig sind. Deal ist: Ich nehme es, pumpe es auf, öle es und reite es ein wenig aus. Wenig versetzt mich so in Kinderfreude. Mit den dicken Reifen schwebt man über das Kopfsteinflaster, das Rennräder zum Frühstück frisst. Die Hundescheiße, die sich Rennradfahrer von ihren ironischen weißen Nasatshirts kratzen, verschwindet auf nimmer wiedersehen unter den Schutzblechen. Es fährt fast von selbst, aber nur gemütlich. Versucht man, schnell zu fahren, wird das Pony bockig. Die wenigen Menschen am Sonntagmorgen hören, dass ich komme, und gehen zur Seite. Sie denken, es ist die geschrumpfte Müllabfuhr. Außerdem singe ich wie ein gestörter: „Kiezpony, Keizponnnyyy!“ Doch nicht jeder mag das Kiezpony. Viele hassen es.
Ein Fahrradmechaniker vom Straßenrand sagte einst abfällig, mein anderes Rad sei ein „Kaufhausrad“. Es ist aus den 70ern und es sieht auch so aus. Nachdem ich eine 8 monatelang ignoriert hatte, bis das Rad mich fast abwarf, brachte ich den Reifen zum Radladen. Entschuldigung, kein Reifen, ein „Laufrad“. Zum Realitätsabgleich: Ich kenne den Mechaniker schon, seit er illegal aus dem Keller im zweiten Hinterhof heraus repariert. Ein typischer Berliner, Schnauzer, Plauze, B-Tarif. Felge gerade machen? Ich gehe extra ein paar Schritte weg, während er sich seinem Spross konferiert, aus Ekel. „Nein. Auf keinen Fall. Die ist weich. Das ist in zwei Tagen wieder drin. Da steht dann wieder die Polizei vor der Tür.“ „Ist mir egal. Nicht bei mir. Ich unterschreib gerne was“ „Nee. Machen wir nicht. Auf keinen Fall.“ „Auch nicht für … Geld?“
Ich bin kein Fan von Kapitalismus, aber wenn ich einen Laden hätte, würde ich denken, es geht um Geld. Natürlich hätte ich eine neue Felge für hunderte Euro kaufen können, aber die wissen, dass ich mich nicht abziehen lasse wie der letzte Lichtenrader. Es geht um mehr. Um Ideologie. Um das nächste Opfer der toxischen Männlichkeit. Diesmal wird nicht England erobert oder ein Schwuler zusammen geschlagen. Diesmal wird kein Behinderter getreten und kein hypersensibles Sprachtabu ignoriert. Diesmal wird ein Pony geschlachtet.
Als ich gehe, steht der Radladentyp mit einem Hipster vor der Tür. Ich weiß, das Wort triggert, aber hier passt es perfekt: Zusammen wichsen sie sich einen auf das Rennrad des Hipsters ab. Ein schwarzes Monster, ebenso leicht wie teuer. Absolut unbrauchbar für die Kopfsteinpflaster des Kiezes. Diebe würden mit dem Panzer in den vierten Hof fahren und die Keller aufsprengen, um es zu klauen. Man muss es nicht nur hochtragen, man muss mit ihm im Bett schlafen. Mit einer entsicherten Luger P08 in der Hand. Die beiden stehen davor, wie Männer früher vor einer Harley, einem Leopardpanzer, einem toten englischen Hünen. Männer schaffen es, etwas Grundgutes wie Fahrradfahren zu zerstören. Es zu nichts weiter zu machen als zu einem fremdschämigen Egowettstreit. Einer irrationalen Materialschlacht. Einem Statussymbol. Wir sind die besten.
Wie viele Frauen protzen mit ihren tausende Euro teuren Rädern? Wie viele nehmen ihre Räder wöchentlich einmal komplett auseinander und bauen sie wieder zusammen? Bei wie vielen ist die Kette stets so blitzblank, dass sie blendet? Wie viele Frauen rasen bis zur Erschöpfung, um sich zu beweisen, dass sie noch am Leben sind? Wie viele ziehen entwürdigende „Radkleidung“ an? Schon dass es geschlechtsspezifische Räder gibt, ist, als würden wir geschlechtsspezifisches Besteck haben. Wieso sitzen Männer mehr nach vorne, auf einem Rad mit Mittelstange? Eine freudianische Botschaft an die Mutter? Auf Damenrädern sitzt man aufrechter, gemütlicher. Es ist fast, als würde frau das Radfahren mehr genießen. Was kommt als nächstes, das Leben genießen? In meinem Kiez sprayen Feministinnen eine umfassende Zusammenfassung des Genderkomplexes an die Wände: „Männer, LOL“.
Das heißt nicht, dass Frauen nicht so beknackt wie Männer werden können. So wie Frauen Kanzlerinnen der CDU, Rüstungsbeauftagte oder KZ-Wärterinnen sein können. Rennräder sind der kleinste Gemeinsame Nenner der Idiotie. Du wohnst direkt am Tempelhofer Feld oder einem anderen riesigen Platz und fährst täglich ein Dutzend Runden? Nicht? Du musst vielleicht sogar manchmal auf normalen Straßen zum Einkaufen fahren? In deinem Land regnet es ab und an? Dann ist ein Rennrad nichts für dich. Schon die Pose, Kopf in die Straße, zeigt: Ich habe keine Lust mehr auf meine Zähne. Am besten, die Räder haben die Schaltung am Rahmen, so wie Handys vor einigen Jahren eine Rundung am Display hatten. Absolut niemand konnte mir erklären, wozu beides gut war. Außer, um sich auf dem Asphalt zu profilieren, und wenn man zum Schalten runter blicken musste, sich davon abkratzen zu lassen.
Ist es nicht besser, die Testosteroniden investieren ihr Geld in Fahrräder als in Autos? No shit Sherlock. Es ist auch besser, als wenn sie es in Atomwaffen investieren oder Säuglingssaftpressen. Es ist hier besser als in Nordkorea oder auf dem Todesstern. Wer sich auf der Existenzstufe einer Qualle einpendeln will, tut gut daran, immer nach unten zu vergleichen. Berthold Brecht sagte: „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist?“ Die effektiven Altruisten rechnen aus, wo Geld den Ärmsten am effektivsten hilft. 30 Cent ist gegenwärtig der Wert eines Menschen. Ein Leben, pro Tag, kann für 30 Cent gerettet werden. Und Du willst mir erzählen, die Freiheit, Dir ein Viertrad für 3000 € zu kaufen, nimmst Du Dir? Da muss selbst das Wort „angemessen“ kotzen.
„Aber was kümmert es es dich, wenn die anderen ein teures Rad fahren, du hast ja die Freiheit, dein Kiezpony benutzen?“, fragt Christian Lindner, während er ein Katzenbaby ertränkt und dabei romantisch der Schatten auf sein Gesicht fällt. Nein, Christian, die Freiheit des anderen ist auch meine Welt. Woher kommt das hirnverbrannte Konzept „Fahrradautobahn“? Oft von Männern, öfter alten, und immer pathologischen Ökonomen. Wir brauchen keine oxymoronische „Fahrradautobahn“. Es reicht, wenn sie auf der Straße nicht mehr überfahren werden. Wenn auf den Kopfsteinpflasterstraßen ein halber Meter an der Seite asphaltiert ist. Konzepte wie die Fahrradautobahn sind für Rennräder erdacht. So formschön und nützlich wie der Flughafen Tempelhof. Oder die grotesk überequippten „Tourenräder“, mit denen Väter aus Lichtenrade zur Museumsinsel fahren. Taschen, Lichter, Flaschenhalter: Sie sehen aus, als würden Sie nach Kirgisistan strampeln. Es ist eine deutsche Krankheit, alles zu überequippen. Vom Radfahren übers Schnorcheln bis hin zum Wandern, sprich: laufen. Die Essenz von Radfahren ist „Kare“: das japanische Konzept der Einheit von Ruhe, Reduktion und Sinn. Du schränkst die Bewegung ein. Nur ein halber Zentimeter berührt den Boden (oder beim Kiezpony zwei). Du fährst gerichtet und flott. Du musst dich ein wenig konzentrieren, hast aber dadurch Ruhe im Denken. Du beschränkst dich, so weit es geht, auf das Nötigste. Nicht nur die jetzt hippen Minimalisten tun das, sondern auch erfolgreiche Unternehmer. Wer sich nicht beschränkt, verfasert sich und endet auf der Plastikmüllkippe. Kare erreicht bestenfalls das, was der Marketingclou des indischen Anwalts und Turnvater Jahns, Yoga, oder die wie Cholera um sich greifende Meditation den Leuten vorgaukelt: innere Ruhe und Klarheit. Es ist das Gegenteil von 27 Gänge schalten, die Durchschnittsgeschwindigkeit checken und an jeder Ampel einen Schluck isotonisches Sportgetränk nehmen. Es ist das Gegenteil von der plastikverseuchten, shoppingsüchtigen Messiefratze des Spätkapitalismus. Das Gegenteil von sich Tonnen von Dingen kaufen, um sich nicht so leer zu fühlen. Und vor allem von Autobahn.
Bibliotheken sind bolschewistische Umtriebe! Kindle, Kopierschutz bei Ebooks und Urheberrechte: Der Kapitalismus verkompliziert Einfaches für Marge. Ebenso das Radfahren. Woher kommen auf einmal die Elektroräder? Fällt niemandem auf, dass es absurd ist, mit Pedalkraft einen Elektromotor zu subventionieren? Das Mofa ist zurecht gestorben. Die Tradition der Technikkrüppel ist lang: Ferdinand Porsche erfand das E-Bike schon 1897. Der wurde wegen Geringfügigkeit eingestellt. Wer braucht schon effiziente Kraftsetzung, wenn er eine mobile Kaskade von Explosionen haben kann? Dass jetzt halbblinde Terrorrentner mit 45 km/h als menschliches Projektil durch die Straßen querschlagen, ist die erfolgreiche Kolonisierung der Einfachheit des Radfahrens mit dem Komplexen: der Verschwendung und der Umweltsau Autoindustrie. Der wirkliche Grund für die Pedalen ist: ohne braucht ein „Rad“ eine Genehmigung als Fahrzeug. Was verkauft wird, ist das gute Gewissen, ihr hättet euch draußen bewegt. Dabei ist ein Akku so umweltschädlich wie euren alten Volvo zwanzigmal um die Welt zu treten. Die fetten kleinen Gangster von der Hermannstraße machen es richtig. Sie wollen einfach cool aussehen und sich nicht bewegen. Neulich fuhr einer an mir vorbei, mit einer Sporttasche. Ich hoffe, es waren nur Drogen drin. Mit dem Elektroroller ins Fitnessstudio, so sind die Menschen.
Kerstin E. Finkelstein zitiert in ihrem wunderbaren Buch „Straßenkampf: Warum wir eine neue Fahrradpolitik brauchen“ die Frauenrechtlerin Rosa Mayreder, die um 1900 in Wien lebte: „Das Bicycle hat zur Emanzipation der Frauen aus den höheren Gesellschaftsschichten mehr beigetragen als alle Bestrebungen der Frauenbewegung zusammengenommen.“ Es hat einen Grund, wieso klerikal-faschistische Diktaturen wie Saudi-Arabien das Fahrradfahren für Frauen verbieten, selbst wenn sie Auto fahren dürfen. Als Autofahrer musst du dich immer einem System angleichen. Es gibt nichts Peinlicheres als die Horden von „Van-Life“-Obdachlosen. Sie fallen auf den schlechtesten Abklatsch von Hippiefreiheit in Form von gemieteten „Bullies“ herein. Die stehen mit den Porschefahrern im Stau, mit dem Spießern im Menschenlager Campingplatz, mit Lastwagenfahrern auf der Autobahnhaltestelle. Und müssen dazu noch in einen Eimer fäkalieren. Das Auto ist spätestens seit der Ölkrise 1973 keine Freiheit mehr. Wahrscheinlich war es das nie, sondern eine Kriegserklärung der Menschen an die Menschen. Das Fahrrad hingehen war nicht nur für Frauen, sondern auch für die Armen Asiens, Afrikas und, ja, Europas, der Weg in ein besseres Leben. Elektrofährader sind künstlich subventionierte Krüppel. Sie reihen sich ein in die Reihe technischer Missgeburten wie die Mikrowelle, der Ölofen oder nuklear betriebene Staubsauger.
Die teuren Fahrräder der Hipster sind fast genauso unnütz. Sie sind wie Ludwig Erhard: ein Mann, der immer noch für das „Wirtschaftswunder“ gefeiert wird. Der aber in Wahrheit ein dreckiger, gieriger Nazikollaborateur war. Die neuen Fahrradhipster sind zwar keine Nazis, aber es geht ihnen beim Radfahren nicht um das Fahren an sich. Zumindest nicht, wenn es nicht auf einer fatamorganaglatten Fahrbahn ist. Es geht ihnen um die Repräsentation. Eine hinterhältige, die vorgibt, Minimalismus zu sein. Wie die Yuppiewohnungen der 80er Jahre. Weiße Gumminoppen auf dem Boden, schwarze Schränke, eine pinke Neonschrift ironisch an der Wand. Niemand fühlt sich dort wohl. So wie auf diesen Rädern. Oder in diesem Leben. Solange wir alles tun, um uns gegenseitig zu beeindrucken, vergessen wir das vielleicht.
Einige meiner Nerdfreunde mechanisieren aus Spaß an der Freude. Nach sechs Stunden Radschrauben wird noch der Kernel der Zahnbürste neu kompiliert. Das meine ich nicht, das ist Fetisch. Ich meine alles, wo man extra lang vor dem Fahrradladen stehen bleiben muss. Wo man die Freundin beeindrucken will, die leider aus akuter Gepäckträgerlosigkeit nebenher joggen muss. Das Kiezpony? Das fuhr einmal drei Menschen durch die Nacht. Einer fuhr, einer auf dem Gepäckträger, einer auf dem Lenker. Und alle haben noch ihre Zähne.
Ist es ein Zufall, dass die neuen Brigaden der Arbeitskämpfe radeln? Dass all die Sklaven in ihren entwürdigend unmodischen Uniformen ihre Räder vor den Toren der Startups türmen, um einen Stundenlohn auf dem Niveau von Burkina Faso zu erbetteln? Natürlich nicht. Der leider kürzlich ungerecht früh verstorbene Anarchistmustheoretiker David Graeber definierte Kommunismus nicht als die Persiflage, die schlecht verkleidete Diktaturen versuchten. Für ihn war er das kleine soziale Miteinander: dass ich nicht jedes Rad mitnehme, auch wenn ich nicht erwischt werde. Dass ich eine Brieftasche aufhebe und dem Besitzer zurückgebe. Dass ich einem Kind keinen Lolli klaue und ihm noch eine Watschn mitgebe. Fahrräder haben nicht nur Giganten wie China wieder auf die Beine gebracht. Sie subventionieren auch unsere Gesellschaft. Sie sparen den Krankenkassen Millionen, lassen arme Psychiater zu wenige Kunden haben, sie helfen der Umwelt mehr als jeder neoliberale Co2-Zertifikat-Keuchhusten. Lange war dieser kleine Kommunismus unentdeckt. Jetzt schnallt man Studentinnen* in den Sattel, lässt sie natürlich selbst für ihre Ausrüstung, ihr Rad und ihre Krankenversicherung zahlen und konvertiert Völlerei zu Geldgier. Es hat lange gedauert, doch das Radfahren wurde so pervertiert wie Plastikblumen. Danke, Männer.
Bei den Radnerds hängt ein Rad an der Wand, eins steht auf dem Reparaturdock, zwei auf dem Hof und sechs Leichen liegen im Keller. Das folgt einer knallharten Logik: Es ist ihr Job. Sie sind Teil eines linken Radkollektivs. So wie die großen Dienste, nur in gerecht. Klar muss der Kunde einen Euro mehr zahlen. Das wäre nicht das Problem. Das Problem ist, dass der Name bis vor kurzem ähnlich einfach war wie ein sicheres Passwort: krAutXwickl7*. Die App war schwer zu finden, noch schwerer zu bedienen, aber wenigstens in ironischem 80er-MS-DOS-Design. Man konnte bei ungefähr fünf sehr politisch korrekten Restaurants bestellen. Jetzt hat sich das zum Glück geändert. Was sich nicht geändert hat, ist, dass ihr Job eine Todesfalle ist. Nicht nur wegen den 120 Kilometern am Tag, nach dem man einige von ihnen im Park Badminton spielen sieht, „weil auch andere Muskeln trainiert werden müssen“. Nicht weil man bei dem Stundenlohn trotzdem in Bangladesh nur in das mittelprächtige Restaurant gehen kann. Sondern wegen Geschichten wie dieser: „Er kommt den Berg am Hermannplatz runter. Volle Fahrt. Unten an der Ampel schneidet ihn ein Transporter, einer dieser mit den schrägen Motorhauben. Er kracht voll mit den Kiefer dagegen. Der bricht wie Glas. Er saust über die Motorhaube und bleibt liegen. Am ersten Tag bin ich reingekommen und man hat mir seine Liefertasche gegeben. Ich habe gefragt, woher die Blutspritzer kommen. ,Viel Glück‘, meinten die anderen.“ Statistisch gesehen, ist der gefährlichste Job Bauarbeiter. Ob man den Statistiken trauen kann, ist eine andere Sache. Sicher nicht jeder kleine Fall wird zur Anzeige gebracht. Die zahllosen Momente des Todes sind die Boni der Radkuriere.
Nicht nur das. Als Radfahrer musst du dir anhören, dass du Schuld am Elend der Welt bist. „EY, STEIGST DU MAL AB ODER WAS, DAS IS‘N PARK HIER!“, schreit der Alki mit hochrotem Kopf. Er hat recht, es ist der Park, wo er sich besäuft, bis Nachts grölt, kotzt und mit dem Gesicht drin liegen bleibt. Der Park, wo Junkies sich mit heruntergelassener Hose in die Leiste spritzen, liegen bleiben und nicht mehr aufstehen. Der Park, der vor der Straße liegt, auf der in beruhigender Regelmäßigkeit Radfahrer totgefahren werden. Die schon seit zwei Jahren einen Radweg haben sollte, aber wo aus akuter Unfähigkeit und schwerstem Unwillen nichts passiert. Autofahrer töten am laufenden Band. Alleine durch den Feinstaub sterben jährlich laut einer Untersuchung des Max-Planck-Instituts für Chemie hierzulande rund 120.000 Menschen pro Jahr. Nein, Elektroautos retten dich nicht, denn der Feinstaub kommt zum Großteil vom Reifenabrieb. Es sollte eigentlich schwer sein, Radfahrer zu hassen. Doch manchmal performt der Berliner.
Besonders formschön war der Fall, als der saudische Diplomat seinen fetten Porsche Cayenne parkte, die Tür aufriss und einen Mann tötete, der dagegen fuhr. Was? Nein, natürlich musste er nicht in den Knast. Aber man war auf allen Seiten sehr „bestürzt“. Besonders in der Botschaft, die die meisten Strafzettel einfährt und aus der manche Journalisten nur in Einzelteilen wieder herauskommen. Die sich das leisten kann, weil wir uns Öl für die Autos leisten. Für den geübten Bildleser war das kein schöner Konflikt: Wen hasse ich mehr? Diese linksgrünversifften Radfahrer oder diese raubordenden Ausländer?
Die Wut ging an den Ausländer. Der Hass aber, das Schwelende, Langfristige, den bekommen die Radfahrer ab. Ist er nicht über die rote Ampel gefahren? Nicht auszudenken, was passieren könnte! Er könnte totgefahren werden! Nicht wie beim Auto, totfahren. Die Strafen sind fast gleich. Ein Fahrrad ist eine Waffe! Darum haben wir, wie Finkelstein sie nennt, „Bettelampeln“. Natürlich muss der Radfahrer und Fußgänger für Grün drücken. Er muss um seinen Platz im öffentlichen Raum betteln. Was wäre, wenn Autofahrer das müssten? Und die Helmpflicht! Wie kannst du es wagen, ohne Helm zu fahren, du Suizidär! Zwar passieren die meisten tödlichen Unfälle in der Rumpfgegend (danke an die SUV-Fahrer!), aber wenn du keinen bescheuerten Schaumstoffkasten auf dem Kopf hast, sind wir nicht glücklich! Zieh dir bitte noch pinke Lätze an und eine neongelbe Eselsmütze auf! Nicht nur das, die Bild und andere autoindustriefinanzierte Pissmedien schüren den Hass der Fußgänger auf Radfahrer. Und es klappt! Man kann sich eindrucksvoll vorstellen, wie die Mobilisierung für den ersten Weltkrieg funktionierte. Singend marschieren wir, die Radisten zu erdolchen!
Das Denken der Autofahrer zeigt das absurde Theater, für das man in Berlin unfreiwillig eine Eintrittskarte bekommt. Ein Denken, dass vom Verkehr so überfordert wie der Körper unterfordert ist. Hochwissenschaftliche Studien zeigen: je fetter und hässlicher die Karre, desto fetter und hässlicher der Typ. Und ja, es sind meist Typen, die das fahren, was der Australier „Penis Enlargement Car“ nennt. Oder von meterweise Make-up entstellte gefühlte Industriellengattinnen, die aufpassen müssen, sich mit ihren schwertartigen Beauty Nails nicht die Augen auszustechen. Der Vorhang öffnete sich nachts um elf an einer Ampel. Ich ging rüber, denn es war Grün. Ein gordotscher Fehler. Es war nicht mal eine Abbiegerampel, trotzdem fuhr mir ein Sportwagen fast über die Füße. Natürlich wusste ich die Geste der Höflichkeit zu schätzen und ließ es ihn wissen: „Ey, du verficktes Arschloch!“ So weit, so gut, so ehrenhaft. Dann schaltete sich ein holder Jüngling in einem geschlagenen Kleinwagen gegenüber ein: „Was dein Problem, du Arsch, lass ihn doch, ja!“ Er machte sich zwar nicht die Mühe, aufzustehen, aber das Fenster herunterzukurbeln. Wie ein angestrahlter Käse leuchtete seine Methfresse bei Nacht. Es war rührender Heldenmut, denn 20 Meter weiter war eine Polizeikontrolle. Auf der Gegenspur, deshalb konnten sie auch den Sportwagen nicht festnehmen. Zuständigkeiten, Sie verstehen. Was sie festnahmen, waren Terrorradler ohne Licht. Da könnte noch jemand sterben! Denk doch mal jemand an die Kinder!
Die meisten Brüter sind nicht exakt meine Zielleserschaft. Trotzdem muss ich hier eine Lanze für sie brechen. Sie kaufen sich Christiania-Bikes, benannt nach der Hippiestadt in Kopenhagen. Tausende Euro teure Lastenfahrräder. Die Kinder voran stürzen sie sich todesmutig in den Verkehr. Die sabbern beruhigt, die Köpfe einige Zentimeter vor den Stoßstangen. Die Kinder der weniger Wohlständigen kauern in zeltartigen Anhängern. Nur ein rotes Fähnchen zeigt den Krankenwägen, wo sie gleich die Reste vom Asphalt schaben müssen. Wer seine Kinder so gefährdet, glaubt an die Sache. Fahrradeltern sind unsere Märtyrer. Dabei gäbe es ein so einfaches Mittel: Lasst einfach alle Politiker wöchentlich jeden Tag eine der gefährlichsten Radstraßen Berlins fahren. Montags die Sonnenallee, dienstags die Schönhauser Allee, mittwochs die Badstraße, donnerstags die Glinkastraße, freitags die Oranienstraße. Die Verkehrsberuhigung würde schneller kommen als eine Valium.
Deswegen ist es auch so unendlich zum Kotzen, wenn die Grünen jetzt nach der Revolution, dem Frieden und der sozialen Gerechtigkeit auch das Radfahren verraten. Der „Green New Deal“ der Grünen ist so verwaschen, das ihn selbst Ursula von der Leyen im Europaparlament zu großen Teilen übernommen hat. Nochmal: Flinten-Uschi. Die mit den millionenschweren Berateraffären in ihrer Familie. Nein, es reicht eben nicht, bis 2038 weiter Braunkohle zu verheizen. Es reicht nicht, Benziner mit Elektroautos zu ersetzen. Und vor allem reicht es verfickt nochmal nicht, die Umweltwende „unternehmerisch gegenfinanzieren“ zu wollen. Der Umweltwissenschaftler Michael Kopatz sagt: „Man kann mit der Natur nicht verhandeln“. Selbst frau nicht. Selbst ein politisches Monstrum wie Ursula nicht. Es reicht nicht, ein paar Radwege zu bauen. Die Kanäle mit Akkus der E-Bikes zu überschwemmen. Schöne Prospekte auf Plastikpapier zu drucken, auf denen Altchen Rad fahren. Erinnert ihr euch an die „Abwrackprämie“? Wieso gab es da nicht ausschließlich Geld für neue Fahrräder? Wieso kehrt man nicht die rechtliche Dominanz von Rädern und Autos um, wie in vielen Teilen der Niederlande? Und vor allem muss frau knallhart verbieten. Ich weiß, da muss der Christian Lindner weinen, aber wir üben immer Zwang aus. Nur merken wir ihn hier nicht, wenn in Bangladesh Hunderttausende wegen unserer Autofreiheit ertrinken. Man muss Autos verbieten. In allen Innenstädten. Man muss die Bahn wieder wirklich günstig machen und auch diesen ganzen elenden Busmarkt austrocknen.
Die Veränderung, die wir brauchen, ist systemisch. Aber wir müssen auch privat wieder eine schöne Tugend einführen: ächten. Wenn du einen SUV fährst, bist du ein Arschloch. Mit mir kannst du dann zwar befreundet sein, aber ich werde dir und jedem, der das hören will, bei jeder Gelegenheit deine Idiotie auf die Nase binden. Und denen, die es nicht hören wollen, besonders. Ich scheiße auf Trigger Warnings, Safe Spaces und die neue Feinfühligkeit. Wer SUV fährt, Fleisch isst oder Frei.Wild hört, ist ein Arschloch. Mehr noch: Was gestern der SUV war, ist heute das Auto. Wohnst du nicht gerade in Zeublitz-Tscheulenroda, gibt es dafür keine Entschuldigung mehr. Das alles hilft zwar nicht. Kein Moralregime ersetzt eine gut geplante Gesellschaft. Manche sagen, wir sollten nicht den Krieg gegen uns, sondern gegen das System führen. Aber es hilft immerhin denen, die an der Dummheit ihrer Mitmenschen verzweifeln. Ich will der sein, der an der Oranienstraße steht und schreit: „Ey du Arschlochautofahrer! Is mir egal, ob‘s Rot oda Grün is. WILLST DU WAS AUF DIE FRESSE?“
Wenn wir schon wahnsinnig sind, wieso nicht noch ein kleiner RAF-Paragraph? Oder besser ELF: Earth Liberation Front. Die erschossen keine Bankster, sondern zündeten Hühner-KZs an (Wenn es anmaßend ist, Hühnerfabriken so zu nennen, dann ist der Holocaustüberlebende Alex Hershaft wohl anmaßend). Alles nicht demokratisch. Wir denken immer, wenn etwas demokratisch entschieden ist, wäre es richtig. Aber die Natur interessiert sich für unsere Demokratie so viel wie für Instagram. Auch für den Klimawandel nebenbei. Die, die sterben, sind wir, nicht die Kakerlaken (die sich bestimmt vor uns ekeln). Wir haben aber nicht das Recht, „demokratisch“ zu entscheiden, wie wir den Planeten für alle Erdenbewohner zerstören. Wir haben selbst nicht mal das Recht, dies im besten aller Deutschländer zu tun. Das wäre, als würde man demokratisch entscheiden, Kinderschänder zu erschießen. Klar gäbe es dafür eine Mehrheit und klar wäre das falsch. Dafür gibt es Gerichte, die wie das Bundesverfassungsgericht gerade Verbrechern wie der CDU endlich Vorgaben machen. Aber das reicht nicht. Wir haben schlicht eine Zeit mehr. Alle feiern Gandhi ab und Mutter Theresa. Die Résistance-Ikone Lucie Aubrac sagte: „Wenn du dich fragst, ob du früher in der Résistance gewesen wärst, frag dich, was du heute tust.“ Wo sind die Menschen, die Kohlekraftwerke besetzen? Es gibt „Ende Gelände“ und die Besetzer des Hambacher Forstes. Sie haben Gesetzesbruch, oder schicker „zivilem Ungeorsam“, nicht wie „Fridays for Future“ entsagt und sind deshalb noch relevant. Aber wieso sind es hunderte Aktivisten und nicht Hunderttausende? Wo sind die Menschen, die Autobahnen besetzten, Hühnerfarmen, Tankstellen, Parteizentralen und die grässliche Motorradraststelle an der exakt richtig benannten Spinnerbrücke in Berlin? Mehr noch: Was würden deine Enkel sagen, wenn du einen SUV anzündest? Was würden sie sagen, wenn du alle Schweine einer Fabrik freilässt und den Laden anzündest? Wenn du das Benzin einer ungenannten Tankstelle so vergiftest, dass es Motoren zerstört und du den bundesweiten Verkehr lahmlegen würdest? Wenn du der verlogenen „Endlich-urteilt-das-Verfassungsgericht“-Umweltsau Peter Altmaier öffentlich eine schallen würdest wie Beate Klarsfeld dem Nazi-Kanzler Kiesinger? Wie viele Menschenleben muss ein Entscheidungsträger im Mittelmeer, in Bangladesh und auf der Autobahn vernichten, bis er zur Verantwortung gezogen wird? Das sind keine schönen Gedanken, nicht wahr, ihr Herren vom Verfassungsschutz? Aber es sind auch keine schönen Realitäten, wenn Menschen ertrinken, verhungern und verrecken. Was darf es sein, Höflichkeit oder Menschenrechte?
Diesen ganzen Wahnsinn vergesse ich auf dem Kiezpony. Ich bin gerade so schnell, dass niemand von den Verrückten mich greifen kann. Ich bin beim Fahren auf die Idee gekommen, einen Hollandrad-Urlaub in Holland zu machen. Eine Idee, die so doof ist, dass sie schon wieder gut ist. In einem Land, das nicht komplett von der Autoindustriepropaganda verunstaltet ist. In dem es Solarradwege gibt und Radbrücken. Ich nehme mir das aufgegebene Hollandrad an der Ecke. Normalerweise wird hier jedes Rad noch aus dem letzten Keller geklaut. Aber dieses hat keine Gänge. Mehr noch, es hat keine 27. Und genau deswegen ist es perfekt.
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